Keine Zeit für Bücher

Leseunterricht im "Merry Dragon"
Leseunterricht im "Merry Dragon"

Amerika, um 1820. Die Bergmann-Brüder lebten seit einigen Jahren in Amerika. Doch immer wieder gingen ihre Gedanken in die alte Heimat, wo viele Menschen bittere Not litten.

Niklas und Heinrich Bergmann lebten seit einigen Jahren in Amerika. Es war ein gutes Leben, sie hatten hart gearbeitet und sich bescheidenen Wohlstand aufgebaut. Vor allem waren sie froh, dass ihre Kinder frei und ohne Hunger aufwachsen konnten.

Viele Kinder können nicht lesen

Doch immer wieder gingen ihre Gedanken in die alte Heimat, wo viele Menschen bittere Not litten. Immer mehr Menschen kamen in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Amerika. Unter den Neuankömmlingen in ihrer Umgebung waren auch viele Kinder. Niklas lud sie oft in den „Merry Dragon“ ein, dann lasen sie mit seiner Hilfe „Grimms Märchen“ aus Deutschland und „Der letzte Mohikaner“ aus Amerika.

Niklas‘ Sohn Harvey war bestürzt, dass so viele der Kinder nicht lesen konnten. Sein Vater erzählte ihm von der Not daheim in Deutschland. In seiner Heimat, so vermutete er, konnten 3/4 der Menschen weder lesen noch schreiben. Sicher, die preußische Regierung kümmerte sich sehr um die Bildung, es bestand sogar Schulpflicht, doch in vielen Bauern- und Arbeiterfamilien herrschte so große Not, dass die Kinder mitarbeiten mussten und nicht zur Schule gehen konnten. Seines Vaters Cousin Hubert hatte ihnen all das geschrieben. Und dass ganz viele Kinder mit leerem Magen zur Schule kamen. Seine Frau Henriette und seine Tochter Anni schmierten fast jeden Tage Butterbrote für sie.

Die Not in der Heimat

Damals lebten viele Menschen von der Heimindustrie und vom Handwerk. Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege kamen immer mehr Industrieprodukte aus England nach Deutschland, und auch dort begann die Industrialisierung; im Königreich Preußen waren die Rheinprovinz, Berlin und Schlesien schon früh industrialisiert. Bis auf wenige Spezialbetriebe konnten die in Heimarbeit erstellten Produkte der billigeren Industrieware nicht standhalten. Je mehr Maschinen eingesetzt werden konnten, desto mehr Menschen verloren ihre Arbeit. Ein mechanischer Webstuhl ersetzte 200 Arbeiter – für die Menschen war das eine Katastrophe. Überlange Arbeitszeiten (14-16 Stunden jeden Tag), Hungerlöhne, Frauen- und sogar Kinderarbeit änderten nichts daran. Zugleich zogen unzählige verarmte Bauern und arbeitslos gewordene Handwerker in die Industriezentren in der Hoffnung, in den Fabriken Arbeit zu finden, was wiederum die Löhne drückte. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutz der Arbeiter gab es nicht, immer mehr Menschen verelendeten.

Politische Unterdrückung (1837, Deutschland)

An jenem Tag des Jahres 1837, als Niklas mit seinen kleinen Gästen wieder ein Märchen der Brüder Grimm lesen wollte, war sein Lächeln gezwungen. Er hatte Post von seinem Cousin Hermann Bergmann in Deutschland bekommen, einen Brief und Zeitungsartikel.

Die Brüder Grimm

„Bevor wir weiterlesen, muss ich Euch zunächst etwas berichten“, begann er, „wir haben hier zahlreiche Märchen der Brüder Grimm zusammen gelesen und ich habe Euch von ihnen erzählt. Jakob und Wilhelm Grimm haben nicht nur deutsche Märchen, sondern Märchen aus aller Welt gesammelt, übersetzt und für Verständnis geworben. Achtung und Liebe für die eigene Sprache und Kultur schloss für sie die Achtung für andere Kulturen ein.

Die „Göttinger Sieben“

Aber nun sind sie selbst bedroht. Sie waren Professoren an der Universität Göttingen, das gehört zum Königreich Hannover. Ungefähr 125 Jahre lang war der Herrscher von Hannover in Personalunion König von England, nun wurde Personalunion gelöst und der neue König hat die gerade erst eingeführte, relativ liberale Verfassung wieder aufgehoben. Das ist ein Rechtsbruch, und dagegen haben sieben Professoren der Universität Göttingen, unter ihnen die Brüder Grimm, protestiert. Nun hat sie der Herrscher des Landes verwiesen, weil sie mit anderen Professoren gegen einen Verfassungsbruch protestiert haben.“

Bewunderung für die mutigen Männer

Als er die fassungslosen Gesichter seiner Zuhörer sah, erklärte er: „Ihr wachst in einem freien Land auf mit einem Präsidenten, den das Volk wählt. In meiner Heimat ist das nicht so. Hier herrschen Könige und Kaiser, die nach dem Sieg über Napoleon die Zeit wieder zurückdrehen wollen, hin zur absoluten Monarchie, wo alle Macht beim Herrscher liegt. Viele aufrechte Männer werden als Demagogen angesehen, das sind Leute, die das Volk verführen und aufhetzten. Die Autoritäten verfolgen sie wegen ‚revolutionärer Umtriebe‘. Unter ihnen sind ganz verdiente Männer, und nun auch die Brüder Grimm.“

Dann lächelte er doch noch. „Mein Cousin schreibt aber auch, dass viele Menschen auf der Seite der mutigen Professoren stehen. Wo sie auch hinkommen, werden sie herzlich und voller Bewunderung empfangen. Die Menschen sammeln sogar Geld für sie.“

* Wir sprechen von einer Zeit des Pauperismus.

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